Kay aus der KurveVom Ultra zum Chef: Der neue Hertha-Präsident Kay Bernstein möchte weniger Kommerz im Fußball. Kann das gelingen?Es gibt im Leben ja nur wenige Momente, in denen man so überwältigt ist, dass man alles vergisst. Wie oft passiert es schon, dass jede Last abfällt und man sich ganz befreit fühlt und nichts mehr spürt außer Glück? "Wenn dein Verein ein Tor schießt", sagt Kay Bernstein, "dann sind das Emotionen, die du nicht kontrollieren kannst. Das ist mit nichts auf der Welt vergleichbar." Ein Sonntagabend im Oktober, der Himmel über dem Berliner Olympiastadion leuchtet dramatisch, passend zum Spiel drinnen – es steht 1 : 1. Am Morgen hat Kay Bernsteins Frau ihm noch die Augenringe weggeschminkt, es sind anstrengende Tage. Und dann passiert es: Tor für Hertha, 2 : 1, Spiel gedreht. Bernstein springt auf, reißt die Arme hoch, Ekstase auf der Ehrentribüne.
Vor vier Monaten wurde Kay Bernstein, 42, zum Hertha-Präsidenten gewählt. In der Fußballwelt eine kleine Sensation. Bernstein ist nämlich kein gewöhnlicher Funktionär. Er war früher der Vorsänger in der Hertha-Kurve, hatte Stadionverbote. Ein Ex-Ultra als Präsident, ausgerechnet bei der Hertha, dem Hauptstadtverein mit einem schillernden Großinvestor, Lars Windhorst, Mitgründer einer Investmentfirma. Ultras mögen Investoren eigentlich nicht so gern. Es ist ein alter Kulturkampf, der sich um die Frage dreht, wem der Sport gehört: Fans oder Finanziers? Bei der Hertha prallten die Extreme plötzlich aufeinander.
Es blieb erst einmal erstaunlich ruhig. Dann aber, vor zwei Wochen, der große Knall: Die Financial Times hatte berichtet, dass Windhorst mithilfe einer israelischen Privatdetektei den vorherigen Hertha-Präsidenten ausspioniert haben soll. Windhorst, der 374 Millionen Euro in den Verein gesteckt hatte und trotzdem kaum Mitspracherechte bekam, habe so versucht, den Ex-Präsidenten zu stürzen. Hertha beauftragte eine Kanzlei mit der Prüfung der Vorfälle, Windhorst bestritt alles und ging auf Facebook zum Frontalangriff über: "Präsident Kay Bernstein ist erkennbar an einer vertrauensvollen und seriösen Zusammenarbeit nicht interessiert." Windhorst will jetzt bei Hertha aussteigen.
Doch kann ein Profifußballverein ohne große Geldgeber überhaupt auskommen, kann also Bernstein, etwas pathetisch formuliert, den Fans in der Kurve ihren Fußball zurückgeben? Die ZEIT hat Kay Bernstein seit Beginn seiner Präsidentschaft begleitet. "Wir sind jetzt das spannendste Fußballprojekt der Welt", sagte er beim ersten Treffen wenige Tage nach seiner Wahl. Natürlich klang das größenwahnsinnig, dabei ist Größenwahn eine der Eigenschaften, die Bernstein gerne den Fußballfunktionären vorhält. Die beigen Sitze des Range Rover riechen noch neu, ihr Duft vermischt sich mit dem süßen Dampf von Bernsteins E-Zigarette. Es geht nach Braunschweig. Ende Juli, DFB-Pokal, das erste Pflichtspiel der Saison. "Ich bin extrem aufgeregt", sagt der Neupräsident.
Er hat heute zwei Freunde mitgenommen: Am Steuer sitzt Lars, "Marzahn-Lars", wie Bernstein ihn einmal nennt. Sie sind alte Kumpels, kommen aus derselben Gegend. Hinten rechts: Colin. Er war Kay Bernsteins Nachfolger als Vorsänger im Fanblock. Neben Colin sitze ich. Ich kenne Colin noch von früher, aus der Kurve. Als Teenager war ich selbst besessener Hertha-Fan, habe zwei Abstiege erlebt und zwei Aufstiege, ich bin Vereinsmitglied geworden und in einen Fanclub eingetreten. Andere haben das alles nie verstanden, ich irgendwann auch nicht mehr so richtig. Mit einem Sport, der immer stärker zu einer Branche wurde, wollte ich nichts mehr zu tun haben.
Im deutschen Fußball gibt es Vereine, die verkörpern das Geschäft nicht nur, sie beherrschen es auch gut. Leipzig zum Beispiel. Es gibt Traditionsclubs, die das Spiel sehr erfolgreich mitspielen, Bayern und Dortmund. Dann sind da noch die Clubs, die als Gegenmodell gelten, obwohl auch sie ihr Image gekonnt vermarkten, St. Pauli etwa. Und es gibt Vereine wie Hertha BSC: lange dabei, lange blass – aber auf jeden Fall für Höheres bestimmt, wenigstens in der Selbstwahrnehmung. Hertha holte sich also in den letzten Jahren Geld von Investoren, wollte mitspielen, aber Hertha scheiterte kläglich und lieferte eine Absurd-Schlagzeile nach der anderen. Man entwickelte sich zur Lachnummer. Womöglich haben sich zuletzt sogar weniger Leute über den HSV lustig gemacht.
Darüber reden wir jetzt, im Range Rover von Marzahn-Lars: über die Entwicklung von Hertha im Speziellen und des Fußballs im Allgemeinen. Es geht darum, dass das Bier im Stadion immer teurer wurde. Dass die Spieltage immer weiter zerstückelt wurden, damit die Fernsehrechte teurer vermarktet werden können. Dass die WM nach Katar vergeben wurde. Kurz: über den Fußball als kommerzielles und manchmal korruptes Geschäft, das sich immer weiter entfernt von denjenigen, die am meisten für ihn brennen. Klassischer Kurven-Talk. Nur sitzt man hier mit dem Chef eines Bundesligavereins zusammen. Vielleicht meinte Bild diese Direktheit, als sie nach Bernsteins Wahl fragte: "Wie gefährlich wird das für die Liga?"
Ein Anruf bei einem der besten Kenner des deutschen Fußballs: Reiner Calmund. Er sei dem "Kay aus der Kurve" ja noch nie begegnet, sagt Calmund. "Aber ihn direkt zu verurteilen, weil er ein Ultra war? Nicht mit mir!" In seiner langen Manager-Karriere sei er einigen gewaltbereiten Fans begegnet. "Aber ich habe auch viele Ultras kennengelernt, die waren absolut top." Kay Bernstein selbst sagt: "Wir hecheln einem Sport hinterher, der brutal gesagt eine Geldmaschine ist. Ich bin kein Revoluzzer. Aber natürlich will ich was ändern." Faireren Wettbewerb. Einen ethischeren Sport. Kurz: einen Fußball, in dem nicht Geld das Sagen hat, sondern die Fans bestimmen. Sagen alle, aber was es konkret bedeutet, kann man auf der VIP-Tribüne in Braunschweig erleben, beim Pokalspiel im Juli. Bernstein guckt da natürlich meist aufs Feld. Aber oft hat er noch etwas anderes im Blick: die Hertha-Kurve. Colin und Lars stehen dort irgendwo, nicht zu sehen aus der Ferne. Bernstein meint aber etwas anderes zu erkennen: "Das sieht mir nach Pyro aus", sagt er.
Bernstein steht zwar seit 16 Jahren nicht mehr selbst in der Kurve, bei Heimspielen saß er die vergangenen Saisons im VIP-Bereich. Trotzdem weiß er natürlich noch, wie es läuft im Block. Wenn die Fahnen hochgehen, erklärt er, sei das immer ein Zeichen dafür, dass gleich Pyrotechnik gezündet werde. Dann, als die Bengalos in Braunschweig wirklich sprühen, nickt er. "Keine Böller, keine Raketen, alles fein. Gehört dazu, Fußball!" Ein Präsident, der sich über Pyrotechnik freut – das ist neu. Immer wieder eskaliert es ja: Raketen, die aus dem Gästeblock auf die Haupttribüne geschossen werden, Böller, die explodieren. Der Einsatz von Pyrotechnik ist verboten, bisher. Eine Angst der Bernstein-Kritiker ist, dass er das ändern will. Und, will er?
Ein Samstag im September, sechs Wochen nach dem Spiel in Braunschweig, das Hertha im Elfmeterschießen verlor. Ein holpriger Saisonstart liegt hinter dem Team. Trotzdem, wenn man jetzt mit Bernstein zwischen Hertha-Fans in der S-Bahn zum Olympiastadion sitzt: kein Gepöbel, nicht mal höfliche Kritik, im Gegenteil. Je näher das Stadion rückt, desto mehr Fans steigen ein, sie feiern Bernstein, rufen "El Presidente" oder "Einer von uns", ständig will jemand ein Foto mit ihm machen. Also, wie war das mit der Pyrotechnik? "Alles, was andere Menschen gefährden könnte, jegliche Form der Gewalt, kann ich nicht akzeptieren. Aber so, wie es jetzt geregelt ist, führt es doch zu nichts", sagt Bernstein. "Ich bin dafür, einen Teil der Kurve zum Pyro-Bereich zu machen, in dem Bengalos geregelt abgebrannt und direkt gelöscht werden können." Er weiß: Die Debatte ist heikel, viele Vereinschefs sehen das ganz anders. Aber man müsse den Fans entgegenkommen, sagt er, ihnen mehr Verantwortung geben – dann würden sie dieser auch gerecht. "Das ist ein bisschen die Geschichte meines Lebens."
Quelle & (ja tatsächlich) Weiterlesen --->
https://www.zeit.de/2022/43/kay-bernste ... ettansichtAnscheinend interessante Zeiten bei der Hertha – "Ex-Ultra verjagt Windhorst" am Ende der Saison in allen Gazetten, scheen wär's ja