Und noch ein
Brett ...
Die Fifa ist eine SchandeDie Iraner protestieren bei der WM gegen ihre eigene Regierung. Wären die europäischen Spieler und Funktionäre so mutig, sie würden Armbinden gegen ihren Verband tragen.Manchmal muss man schweigen. Lieber jedenfalls als solche Worte singen: "Aufgeht am Horizont die Sonne des Ostens / im Glanze der Blicke der Rechtgläubigen / Anmut des Bahman ist unser Glaube, / deine Botschaft, O Imam, Unabhängigkeit und Freiheit, durchdringt unseren Leib und unsre Seele / O Märtyrer, eure Schreie hallen wider im Ohr der Zeit: / Bleib ewig beständig, Islamische Republik Iran." Als die Fußballmannschaft der ewig beständigen Islamischen Republik vor dem Spiel gegen England kollektiv zur Hymne schwieg, standen mir die Tränen in den Augen. Obwohl ich als geborener Londoner treuer England-Fan bin, hätte ich diesen iranischen Männern, die so viel riskieren, fast den Sieg gewünscht. Und im Stadion die Frauen, die vor laufenden Fernsehkameras mit offenen Haaren ihre Mannschaft anfeuerten! Welcher Mut! Aufgeht die Sonne des Ostens!
Und dann die englische Mannschaft: ohne die One-Love-Kapitänsbinde, mit der man den Emir von Katar und die Fifa ärgern wollte. Eingeknickt vor der doch zu erwartenden Androhung von Sanktionen gegen die Spieler wie die Mannschaften von Deutschland, den Niederlanden, Belgien, der Schweiz, Wales, Frankreich und Dänemark, die sich geeinigt hatten, diese Binde als Zeichen des Protestes gegen die Unterdrückung sexueller Minderheiten zu tragen. Dabei war die Binde selbst ein Zeichen des Einknickens vor den Gewaltigen des Fußballs, nämlich den Funktionären. Als Manuel Neuer während der Europameisterschaft eine Kapitänsbinde in den Regenbogenfarben der LGBTQ-Bewegung trug, nahm der europäische Fußballverband Uefa Ermittlungen gegen den DFB auf. Die wurden zwar eingestellt, weil die Binde "einem guten Zweck diene", nämlich dem Einsatz für "eine vielfältigere und integrativere Gesellschaft", doch die One-Love-Binde vermeidet die Verwendung der Regenbogenfarben und bleibt in der Botschaft so vage und unpolitisch wie möglich. Was, wie man sieht, auch nichts genutzt hat.
Den Kompromiss habe ich damals verteidigt, weil ich glaubte, eine schwache Geste sei besser als gar keine. Jetzt bin ich mir nicht so sicher. Die iranischen Spieler, die iranischen Frauen haben mir gezeigt, worauf es wirklich ankommt: nicht auf schwache Gesten, die vor allem das eigene Gewissen beruhigen und das eigene Image bei den heimischen Medien aufpolieren sollen – die Fans sind ja nicht bekannt als Speerspitze der Wokeness –, sondern auf starke Gesten, die etwas kosten und die deshalb wirken; auf Mut. Als aber die englische Nationalmannschaft aus Solidarität mit den US-Athleten geschlossen kniete, riskierte sie nichts. Und bewirkte deshalb auch nichts. Nachdem die Mannschaft im Endspiel der Europameisterschaft 2020 im Elfmeterschießen unterlag, klagte Jude Bellingham: "Bis dahin hatten wir das Gefühl, das Land sei geeint", aber nach der Niederlage seien die Spieler, die verschossen hatten, plötzlich "nicht englisch, sondern schwarz". So viel übrigens zur Notwendigkeit, ausgerechnet in Katar für eine "vielfältigere und integrativere Gesellschaft" zu werben. Überhaupt Katar. Vielleicht war es eine "bekloppte Idee", die WM 2020 an Katar zu vergeben, wie Vizekanzler Robert Habeck sagte. Vor allem klimatisch betrachtet. Dass die Spiele im europäischen Winter stattfinden müssen, weil die Sommerhitze in Katar für Spieler und Zuschauer unerträglich wäre, und dass auch jetzt die Stadien mit Klimaanlagen ausgestattet werden müssen: bekloppt, ja. Dass die extra für die WM gebauten Stadien, Hotels, Straßen, Metrostationen und andere Infrastruktur wahrscheinlich nach der WM leer stehen werden: bekloppt, ja.
Dass sie mit aus Südasien importierten Arbeitern gebaut wurden, die faktisch rechtlos waren: eher die Norm in der arabischen Welt. Wer hat denn Dubai gebaut, wer hält dieses Touristenmekka am Laufen? Eben. Fast 90 Prozent der Bevölkerung Katars sind Ausländer; man kann das auch als Vorzeichen einer globalisierten Moderne deuten – und freilich verlangen, dass in dieser Welt Organisationen wie Fifa die Vergabe der WM davon abhängig machen, dass Arbeiter in den Gastländern jene gewerkschaftlichen Rechte haben, die in zivilisierten Ländern selbstverständlich sein sollten. Politisch allerdings war die Vergabe an Katar nicht bekloppter, als die WM 2018 nach Russland, die Olympischen Sommerspiele 2008 und die Winterspiele 2022 nach China, die Winterspiele 2014 nach Sotschi zu vergeben. Die Spiele in Sotschi immerhin – im Frühjahr hatte Putins Russland die Krim annektiert und Teile der Ostukraine besetzt – wurden weitgehend von der westlichen Politik boykottiert. Und 60 Europaabgeordnete aus 16 Ländern und fünf Fraktionen forderten auf Initiative der deutschen Grünenabgeordneten Rebecca Harms einen EU-weiten Politikerboykott der WM 2018. Doch das Ausmaß der Medienempörung war nicht annähernd so groß wie jetzt bei dem Emirat, das – im Gegensatz zu Russland und China – keinen seiner Nachbarn überfallen hat und – im Gegensatz zu Russland und China – in Sachen Menschenrechte immerhin gewisse Fortschritte gemacht hat.
Ja, die Homosexualität ist in Katar verboten und steht unter Strafe. Und es gibt nichts, was eine solche Gesetzgebung rechtfertigt. Man sollte aber daran erinnern, dass der Paragraf 175, der die Homosexualität kriminalisierte, bei uns erst am 11. Juni 1994 endgültig abgeschafft wurde. Was – muss man es betonen? – nichts besser macht. Aber als sich die Delegierten in Ägypten zur Klimakonferenz COP 27 in Scharm al-Scheich trafen: Trugen da die Politiker Armbinden in den Farben des Regenbogens? Oder die One-Love-Armbinde? Dabei gibt es in Ägypten immer wieder Razzien gegen Treffpunkte von Homosexuellen, Verhaftungen, Folter und Gerichtsverfahren, obwohl die Homosexualität nicht offiziell verboten ist. In Katar hingegen, wo jeder außereheliche Sex verboten ist, "sind bisher keine Fälle von Verhaftungen von LGBTIQ-Personen bekannt geworden", heißt es auf der Homepage des Auswärtigen Amts. In fast der gesamten islamischen Welt mit Ausnahme der Türkei, die schon 1852, lange vor Deutschland, die Kriminalisierung der Homosexualität abschaffte, aber auch in vielen mehrheitlich christlichen Staaten Afrikas werden Menschen, die LGBTQ+ sind, mehr oder weniger offen, mehr oder wenig brutal verfolgt – nirgends offener und brutaler übrigens als in der ewig beständigen Islamischen Republik Iran.
Offen und ohne Angst leben können sie nur in Israel, aber darauf hinzuweisen gilt – gerade in manchen progressiven Kreisen – als Pinkwashing eines westlichen Staates, Eurozentrismus und Missachtung der angeblich unterdrückten arabisch-islamischen Kultur. Eins jedenfalls ist sicher: Niemals würde die Fifa die WM nach Israel vergeben. Ein Schelm, wer dabei an die Milliarden der Öl- und Gasscheichs und den Antisemitismus der Fußballfans nicht nur in der arabischen Welt denkt. Aber das nur nebenbei. Wie aber aus alledem hervorgeht: Katar ist nicht das Problem. Katar spielt nach den Fifa-Regeln. Und die sind das Problem. Wie sagte Fifa-Generalssekretär Jérôme Valcke vor der WM in Brasilien? "Weniger Demokratie ist manchmal besser für die Organisierung einer WM. Wenn man einen starken Regierungschef hat, der Entscheidungen treffen kann, wie vielleicht Putin 2018, das ist für uns Organisatoren einfacher als ein Land wie Deutschland, wo man auf verschiedenen Eben verhandeln muss." Genau, und wenn der autoritäre Regierungschef viel, viel Geld hat, umso besser. Wären die europäischen Spieler und Funktionäre mutig wie die iranischen Spieler, sie würden alle – nicht bloß die Kapitäne – Armbinden gegen ihre eigene Organisation tragen, so wie die Iraner gegen ihre eigene Regierung protestierten. Also in diesem Fall gegen Fifa, nicht für "One Love" und "Vielfalt". Wie Bertolt Brecht dichtete: "Mögen andere von ihrer Schande sprechen / ich spreche von der meinen." Die Fifa ist eine Schande.
Zu den Bewerbern für die übernächste WM – 2026 findet die WM in den USA, Kanada und Mexiko statt – gehören Ägypten und Kamerun. Die Fifa müsste ihnen – und etwa Marokko, das sich bewerben will – sagen, dass ihre Bewerbung chancenlos ist, solange LGBTQ+ Menschen vom Staat verfolgt werden. Punkt. Und auch künftig muss die Einhaltung bestimmter Menschenrechtsstandards, inklusive gewerkschaftlicher Rechte, wichtiger sein als das Geld der Bewerberländer und die Einfachheit, mit denen sie Entscheidungen treffen können. Statt sich über Armbinden und Kniefälle zu streiten, sollten sich die europäischen Verbände darauf einigen, an keiner WM teilzunehmen, deren Gastland diesen Kriterien nicht entspricht – und notfalls die Europameisterschaften alle zwei Jahre abzuhalten. Ohne die europäischen Stars – und die europäischen Fans – wäre die Fifa-WM fast völlig irrelevant.
Jedoch ist dies alles eine Aufgabe der Funktionäre. Es ist schlimm genug, dass im Profifußball die Spieler als menschliche Werbetafeln – Paris St. Germain etwa für Katar – missbraucht werden; dass sie durch Fehlentscheidungen ihrer Funktionäre in eine Situation gebracht werden, wo sie sich politisch positionieren müssen, ist im wahrsten Wortsinn unsportlich. Der Sport sollte unpolitisch sein. Manchmal geht das nicht, wie die tapferen Iraner bewiesen; in der Regel jedoch sollten die Funktionäre dafür sorgen, dass die Sportler unpolitisch bleiben können, indem sie sich politisch engagieren.
Quelle --->
https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-1 ... ettansicht