Der Mann aus dem Jahrhundertmatch
Boris Spasski unterlag Bobby Fischer im legendärsten Duell der Schachgeschichte, West gegen Ost. Dabei war der Russe ganz anders, als es dem Klischee entsprach.
Gibt ja Zeitgenossen, die nichts vom Schach wissen, aber das wissen sie: Bobby Fischer gegen Boris Spasski, das Match des Jahrhunderts, der Kampf der Systeme, die Schachweltmeisterschaft in Reykjavik 1972. Mitten im Kalten Krieg der phänomenale Sieg eines Helden aus dem freien Westen gegen einen Exponenten des sowjetischen Kommunistenregimes, das mit seinen zig Weltmeistern und unzähligen Großmeistern das globale Schach jahrzehntelang dominiert hatte. So jedenfalls konnte man es damals wahrnehmen, und manch einer mag heute noch glauben, dass es so war. Nun, es war ein bisschen anders.
Bobby Fischer war ein Egomane und Exzentriker, der das Bild vom Schach als Tummelplatz genialer Irrer bis in die Gegenwart prägen sollte. Spasski war das schiere Gegenteil, ein menschenfreundlicher Bohemien und Lebemann, wovon die westliche Öffentlichkeit wenig Notiz nahm. Er hatte seine Aufgabe gewissermaßen erfüllt. Auch in Moskau sank sein Stern. Die Apparatschiks waren ihm seit eh und je auf den Keks gegangen. Nun nahmen sie Rache. Neun Monate lang durfte er an keinem Turnier mehr teilnehmen, seine Bezüge wurden gekürzt. Schach war eine Staatsangelegenheit von hoher Priorität, und er hatte schmählich versagt. Fortan war es sein Schicksal, immer als Zweiter genannt zu werden, im selben Atemzug mit Bobby Fischer. Spasski machte sich nichts daraus. Er erkor sich Fischer sogar zum Freund, auf dessen Anrufe er geduldig wartete, weil er wusste, dass der nicht angerufen werden mochte.
Vor seinem Tod im Jahr 2008 verfügte Fischer, dass nur drei Schachspieler zu seiner Beerdigung eingeladen werden sollten; Spasski war einer von ihnen. Doch Spasski konnte nicht kommen. Als er zwei Monate später kam, legte er Blumen nieder. Beiläufig erkundigte er sich, ob das Grab nebenan noch frei sei. War das ein Scherz? Mag sein. Spasski war ein Meister des Wortes; oft waren seine Pointen so unscharf wie die fotorealistischen Porträts von Gerhard Richter. In der Offenheit lag sein Geheimnis. Am Schachbrett war er schwer zu fassen. Er konnte alles und spielte alles. Die schärfsten Kombinationen, die tiefsten Strategien. Von einem Moment auf den anderen vermochte er umzuschalten. Es verband sich kein spezifischer Stil mit ihm; das unterschied ihn von seinen Vorgängern.
Zeit seines Lebens spielte er gelegentlich sogar das Königsgambit, jenes legendäre Bauernopfer im zweiten Zug, welches das 19. Jahrhundert in Schach gehalten hatte. Ein Hauen und Stechen, das zu einem jähen Ende kam, als wirksame Verteidigungen gefunden wurden. Seither ist diese Eröffnungswahl in etwa so, als würde ein DJ statt Vinyl Schellack auf den Teller legen. Kein seriöser Meister machte das im 20. Jahrhundert mehr. Aber Spasski soll nicht eine Partie damit verloren haben. Die Amateure mit ihrem Sinn für Romantik liebten ihn dafür. Ich bin ihm 2014 im russischen Sotschi an der Schwarzmeerküste begegnet. Spasski war Ehrengast der Schach-WM zwischen dem jungen Weltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen und dem Inder Viswanathan Anand.
Damals, mit 77, sitzt Spasski, gezeichnet von zwei Schlaganfällen, schon im Rollstuhl. Zwei Damen schieben ihn durchs Foyer zur Pressekonferenz. Viele Fotos, viele Fragen. Ob ihn Magnus Carlsen an Bobby Fischer erinnere, will ein norwegischer Reporter wissen. "Die beiden kann man nicht vergleichen", sagt Spasski. Übrigens halte er Kontakt zu Bobby. "Ich spreche oft mit ihm in meinen Träumen." Norwegen setzt nach: Was sagt Bobby über Magnus? "Wir haben nicht über ihn gesprochen", sagt Spasski, aber er könne ihn ja bei Gelegenheit mal fragen. Was er, Boris, von Magnus halte? "Ich finde ihn sehr lustig", sagt Spasski. "In meiner Vorstellung kommt er aus dem Boden, wie ein Gnom. Aber er ist sehr attraktiv. Und er hat sein Leben dem Schach gewidmet. Er ist stabil, selbstbewusst, und er macht keine Politik. Heute ist es sehr gefährlich, ein Politiker zu sein."
"Schach ist gut, die Zeiten sind es nicht", fährt er fort und spricht von "diesem furchtbaren Krieg in der Ukraine". Man bekämpfe einander doch besser auf dem Brett als in der Wirklichkeit. Dieser Schwenk ist mir unvergesslich, vom toten Bobby über die Trolle Norwegens in die Ostukraine. Und wann immer ich Magnus Carlsen sehe, denke ich, der kommt aus dem Boden. Boris Wassiljewitsch Spasski, geboren am 30. Januar 1937 in St. Petersburg, aufgewachsen unter schwierigen Bedingungen, hatte einen starken Sinn für die Freiheit. Nach dem verlorenen WM-Kampf zog er 1975 mit seiner dritten Frau nach Paris, wo er, der fließend Französisch sprach, jahrzehntelang lebte. Seine letzten Jahre verbrachte er wieder in Moskau.
Am 27. Februar 2025 ist er im Alter von 88 Jahren gestorben.
Quelle --->
https://www.zeit.de/sport/2025-02/boris ... vik%201972.