Fußball für ReicheGianni Infantino behauptet, die Kritik an der WM in Katar entspringe der Überheblichkeit des Westens. Dabei kommt sie nicht von oben, sondern von unten.In Katar finden verschiedene Weltmeisterschaften statt, zum Beispiel die des Geldverdienens. Da macht Gianni Infantino keiner etwas vor, da ist er sozusagen Messi und Mbappé in einer Person. Am Freitag sagte er der Weltpresse, die Fifa erwarte elf Milliarden US-Dollar Gewinn in den nächsten vier Jahren. Die Einnahmen aus der neuen Club-WM, deren Ausweitung er nebenbei verkündete, nicht eingerechnet. Bei seinem ersten Auftritt in Katar, einen Tag vor der WM, hatte der Fifa-Präsident einen anderen Weltmeistertitel gewonnen: den im Whataboutism, dem Ausweichen einer Frage durch eine Gegenfrage. Die Debatten und Boykottaufrufe angesichts katarischer Menschenrechtsverletzungen und toter Bauarbeiter führte er auf die angebliche Doppelmoral des Westens zurück. Er sprach von Kolonialismus und Rassismus. Die Mächtigen in Katar, wo er nun lebt, werden es ihm sicher honorieren.
Die US-amerikanische Politologin Monica Marks bezeichnet Infantinos Strategie als "eine Fallstudie, wie sich mächtige Führer und korrupte Organisationen linke Narrative aneignen, um von Kritik abzulenken". Rassismus und Doppelmoral gibt es in Europa wirklich, auch in den Diskussionen über Katar. Der Kern der Kritik an dieser WM hat mit Überheblichkeit jedoch nichts zu tun. Sie kommt nicht von oben, wie Infantino behauptet, sondern von unten. Sie ist kapitalismuskritisch. Der Menschenrechtsforscher Nicholas McGeehan, der lange in der Golfregion gelebt hat, schreibt in einem viel beachteten Aufsatz, Katar sei ein Modell "zur Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte", es ermögliche "einen gewaltigen Wohlstandstransfer der ärmsten Menschen der Welt zu den reichsten Eliten".
Mindestens 200 Milliarden US-Dollar hat die WM gekostet, also mehr als das 20-fache der WM in Russland. Zu gerechten Löhnen und verbindlichen angemessenen Entschädigungen der Hinterbliebenen verstorbener Arbeitsmigranten konnten sich die Verantwortlichen jedoch nicht durchringen. An der konkreten Zahl der Toten fanden sie so wenig Interesse wie an der Ursache ihres Sterbens. Auf Infantinos Pressekonferenz gab es einen (unfreiwillig) ehrlichen Moment. Er sagte, es sei eine WM "ohne Zwischenfälle" gewesen. Dabei starben im zurückliegenden Monat ein Bauarbeiter und ein Securityguard während der Ausübung ihrer Tätigkeit. "Der Tod gehört zum Leben", sagte anschließend ein Sprecher Katars und beschwerte sich über die Fragen der Journalisten. Nicht jedes Menschenleben zählt hier gleich.
Auch eine andere aktuelle Nachricht erinnert daran, warum die WM in Katar stattfindet. In Brüssel fanden Ermittler Geldscheine. Wenn die Vorwürfe stimmen, haben sich EU-Parlamentarier von Katar bestechen lassen. Die Vizepräsidentin sitzt in Haft, unter den Verdächtigen ist ein Gewerkschafter. Zuletzt fielen beide dadurch auf, dass sie die Verhältnisse in Katar milde bewerteten. Es ist eine Folge von Infantinos postfaktischer WM: Man verliert den Überblick, wie unabhängig diejenigen sind, die an der Debatte teilnehmen. Es haben viele Lobbyisten aus dem Westen von Katar oder der Fifa Gegenleistungen erhalten, Agenturen, Wissenschaftlerinnen, Ex-Fußballer, Influencer, Bloggerinnen. Von manchen weiß man es, von anderen nicht. Das macht die Suche nach der Wahrheit und dem besseren Argument besonders schwierig, weil auch legitime Gegenkritik unter Verdacht gerät.
Da lobt man sich fast David Beckham, der als Katar-Botschafter 150 Millionen Pfund erhalten haben soll. Laut einer Recherche der New York Times ist sein Auftraggeber nicht zufrieden, weil Beckham fast durchgehend schweigt. In ihm, so scheint es, hat Katar seinen Meister gefunden. It's all about the money. Andere sind deutlich billiger. In der FAZ kam ein Bayern-Fan zu Wort, der sich von Katar einladen lassen hatte. Den Deutschen warf er Heuchelei vor. Ihm gefalle die völkerverbindende Wirkung des Turniers. An der Oberfläche fand in Doha tatsächlich eine fröhliche, weltoffene Feier statt. Aber nur für die, die dazugehören. Neben dem traditionellen Fußballvolk aus Argentinien, Marokko oder Kroatien, das Erfolge in den wenigen Alkohol führenden Bars Dohas begießt und besingt, besteht ein beträchtlicher Teil der Fans aus der neuen Kundschaft des internationalen Hochglanzfußballs: Globetrotter, die während des Paris-Wochenendes nach dem Louvre noch ein Heimspiel von PSG dranhängen, um die Luxusmarken der Fußballelf zu bestaunen, die sich Katar in Frankreich hält. 200, 300 oder 500 Euro ist ihnen das Erlebnis und das Selfie für Instagram wert.
Eine WM muss man sich leisten können. In Katar sind Flüge und Hotels besonders teuer. Auf Pearl, der künstlichen Halbinsel im Nordosten Dohas, wo die besonders Kaufkräftigen leben, sieht man nun Touris im Neymar-Shirt. Sie raten die Besitzer der Jachten, die in der Bucht liegen, bestaunen den Showroom von Rolls-Royce und machen Bilder von aufgereihten bunten Lamborghinis. Die, die drinsitzen, machen die Stimmung in den Stadien. In Katar sind sie keine Arenen des Affektabbaus oder Ventile der Gesellschaft. Hier ist Showtime. Die Leute wollen etwas geboten bekommen. Findet Spektakel statt, was in Katar meist der Fall ist, gehen sie mit. Es wird richtig laut. Brasilien aber konnte, als es im Viertelfinale gegen Kroatien eng wurde, nicht mehr auf Support von den Rängen zählen. Unter den Fans im gelben Shirt schienen manche so echt wie die katarische Kunststadt Lusail im Norden Dohas. Und was die Fifa-Weltregie ungern zeigt: Kurz vor Beginn, aber auch in den Randzeiten des Spiels, selbst in der Verlängerung, sind sehr viele Sitze leer.
Die Klage über Geld ist so alt wie der Fußball. In Katar ist nun die (vorläufige) Endstufe der Fußballkommerzialisierung erreicht. Die Atmosphäre und das Wesen dieses Turniers nimmt die Super League vorweg. Mit diesem höchst umstrittenen Projekt will ein Zirkel der Top-Brands unter sich den Rahm des Milliardengeschäfts abschöpfen. In dieser Gated Community des Fußballs gerät der letzte Rest an seiner gesellschaftlichen Relevanz aus dem Blick. Politisch geht die Rechnung für Katar auf, das Megaprojekt Sportswashing funktioniert. Doch der Fußball im Land wird kaum so profitieren wie etwa in Deutschland, als nach der WM 2006 noch mehr Kinder in Vereine eintraten. In Katar begreift man den Volkssport als Eliteprojekt. Die Aspire Academy hat jedoch nicht geliefert. Die Fußballer, die dieses Labor produziert, konnten nicht mithalten. Die Gegner haben sie aus Höflichkeit vor höheren Niederlagen verschont. Der Emir und sein Gefolge haben nicht im Ansatz die sozialen Dimensionen des Fußballs verstanden oder verstehen wollen. Wenn sie wüssten, welches Freiheitspotenzial in diesem Spiel und seinen Regeln steckt, wie tief Fußball in der europäischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts wurzelt und wie demokratisch dieser Mannschaftssport wirken kann, würden sie ihn womöglich verbieten.
Quelle --->
https://www.zeit.de/sport/2022-12/katar ... ettansicht