Happig ...
Die Anti-Diva für den Anti-Diven-Klub
Durch seinen Wechsel zum FC Liverpool wird Florian Wirtz zum teuersten deutschen Fußballer. Im Kontrast: seine Normalität, mit der er perfekt in Englands Norden passt.
"Yeah, I feel very happy and very proud", waren die ersten Worte, die Florian Wirtz im Outfit des FC Liverpool sprach. In dem zweiminütigen Video, das der Klub am Freitag veröffentlichte, sitzt Wirtz auf einer Couch, natürlich einer roten, im Hintergrund die Trainingsplätze, und wirkt wie jemand, der schon zu diesem Zeitpunkt weiß, dass er am richtigen Ort ist. Nachdem der Transfer von Leverkusen nach Liverpool schon seit Wochen so gut wie feststeht, haben sich beide Vereine nun auch finanziell geeinigt: Florian Wirtz geht für wohl 125 Millionen Euro zum FC Liverpool. Mit diversen Boni, von denen 15 Millionen realistisch und zehn etwas schwieriger zu erreichen seien, könnte Liverpool in den kommenden Jahren insgesamt 150 Millionen Euro nach Leverkusen überweisen.
So oder so ist Wirtz damit der teuerste deutsche Fußballer aller Zeiten. Und zugleich der Rekordtransfer in der Geschichte der Premier League, der einkaufsfreudigsten Fußballliga der Welt. Wirtz steht in einer Reihe mit den teuersten Fußballern der Geschichte. Nur für João Félix (127 Millionen), Kylian Mbappé (180) und Neymar (222) griff man je tiefer in die Geldbörsen. Wirtz ist auch der teuerste Post-Corona-Transfer der Branche. Zunächst natürlich kann der deutsche Fußball stolz sein, dass es einer der ihren ist, um den sich dieser sagenhafte Transfer dreht. Deutschland steckt seit je und noch immer voller Fußballtalente und hat entsprechende Strukturen, diese Talente bis zur Weltklasse zu entwickeln. Dass einige von ihnen den letzten Schritt dann im Ausland gehen, liegt daran, dass hierzulande nur der FC Bayern einen dauerhaft realistischen Shot auf den größtmöglichen Vereinstitel bietet, den Titel in der Champions League. Nach München aber wollte Florian Wirtz nicht. Anscheinend konnte ihm der Bayerntrainer Vincent Kompany nicht überzeugend genug vermitteln, was genau er eigentlich mit ihm vorhat und wie er verhindern will, dass er sich mit Jamal Musiala, dem anderen deutschen Großtalent, zu sehr auf den Füßen steht. Zumal Wirtz in dem Vorstellungsvideo in passablem Englisch sagt, dass er gerne zu einem Klub wechseln wollte, der zu den Top drei der Welt gehört. Liverpool sei einer davon gewesen. Wen er noch dazu zählt, sagte er nicht.
Wirtz und Liverpool, es sieht nach dem perfect match aus. Im Gegensatz zu den anderen teuersten Spielern der Fußballhistorie geht dem 22-Jährigen jegliches Diventum ab. Von ihm sind weder Skandale noch übertriebenes Luxusgebaren bekannt. An dieser erfrischenden Flausenlosigkeit hat seine Familie einen großen Anteil. Wirtz' Schwester Juliane spielt im Mittelfeld des SV Werder Bremen. Der Vater Hans-Joachim ist Vorsitzender und Jugendleiter des Amateurklubs SV Grün Weiß Brauweiler. Viel näher dran an der deutschen Fußballbasis kann man kaum sein. Mit seiner Ausstrahlung eines Arbeiterkindes passt Wirtz nach Nordengland, wo der FC Liverpool zwar – wie alle europäischen Topklubs – längst ein Multimillionen-Pfund-Unternehmen ist, aber zugleich tief in der Community verwurzelt. Der Klub ist Stolz der Stadt, der Kultur und des Lebensgefühls, wie man es kaum anderswo in Europa kennt. Wer in der Arbeiterstadt Liverpool abhebt, wird von den Scousers ganz schnell wieder eingenordet. Einen Neymar hätte sich hier niemand vorstellen können. Der Klub ist weder promigeil noch von einem Golfstaat gepampert, sondern gilt als einer der am seriösesten geführten Spitzenvereine des Kontinents. Liverpool ist ein Anti-Diven-Klub, perfekt für die Anti-Diva Wirtz.
Auch fußballerisch kann der Wechsel ein Win-Win werden. Wirtz soll als neue Nummer 10 für die Spielgestaltung zuständig sein. Sein neuer Trainer Arne Slot scheint ihm etwas klarer und detaillierter formuliert zu haben, wie er ihn einzusetzen gedenkt, inklusive der Zusage, das Spiel um Wirtz herum neu organisieren zu wollen und eventuell sogar die Grundordnung zu ändern. Nicht selbstverständlich für einen Klub, der souverän die englische Meisterschaft gewonnen und mit enormem Abstand die meisten Tore geschossen hat. Doch tatsächlich: Wenn Liverpool, das unter Slot zwar etwas weniger abenteuerlich als unter Klopp, aber immer noch intensiv spielt, etwas braucht, dann mehr Kreativität, um den Gegner nicht nur überpowern, sondern noch ein wenig öfter auch ausspielen zu können. Liverpools Dominik Szoboslai, bisher eine Art Spielmacher, obwohl eigentlich weiter hinten zu Hause, könnte sich demnach etwas tiefer ins Mittelfeld fallen lassen. Wirtz darf dann Ideen haben. Aber auch gegen den Ball muss ein Liverpool-Spieler immer arbeiten. Das dürfte Wirtz nicht schwerfallen. In der vergangenen Bundesligasaison eroberte nur Michael Olise von den Bayern den Ball im letzten Drittel häufiger als Wirtz.
Für Wirtz ist Liverpool ein Schritt heraus aus der Komfortzone Leverkusen, vielleicht auch ein Schritt raus aus der Komfortzone Bundesliga, die mit den Bayern zu gewinnen nicht zu den größten Herausforderungen eines Fußballers zählt. Wirtz hat sich für das beste sportliche Projekt entschieden. Bei Liverpool soll er nicht mehr verdienen, als die Bayern ihm gezahlt hätten, womöglich sogar etwas weniger. "Sorry for the long wait", schließt Wirtz in dem Video, als er gefragt wird, was er den Liverpoolfans noch sagen will. Als sei es ihm selbst etwas peinlich, dass sich die millionenschweren Verhandlungen um ihn so lange hingezogen haben. Jürgen Klopp stellte sich in Liverpool einst als "The Normal One" vor. Florian Wirtz ist es wirklich.
Quelle --->
https://www.zeit.de/sport/2025-06/flori ... ettansicht